Von steppenden Bären und halluzinierenden Tartaren

Während vor Capri die rote Flotte im Meer versinkt und das Bescheißen der Russen-Mafia zu einer echten Mutprobe, tanzen irgendwo in der Taiga Bären um ein sprühendes Lagerfeuer. Tartaren trommeln, trompeten auf allem, was die Tundra hergibt. Aktive Hypnose, komplette Halluzination, Rauch und surrende Mücken lassen die verschwimmen. Dies ist die musikalische der russischen Band Ole Lukkoye, zumindest den frühen Alben. Im wesentlichen aus Boris Bardash, Andrey Lavrinenko und Alexander Frolov erschien 1993 das Debütalbum “Zapara”, noch tief verwurzelt in ethnischen Traditionen fast frei von modernen Einflüssen ist. Die E-Gitarren und Synthesizer spielen eine untergeordnete Rolle. Die Musik selbst noch ruhiger, eher verträumt. Mit dem zweiten Album “Toomze” (1996) sollte sich das entscheidend modern. Hier steht ganz klar die berauschende im Vordergrund, die Tracks sind deutlich psychedelischer. E-Gitarre und Synthie vermischen sich mit traditionellen Instrumenten und lassen sich kaum unterscheiden. Dies ist der Stoff, von dem alle Schamanen träumen und der den Geist von Flora und Fauna enthält.

Doch keine Idylle währt ewig: “Sie haben 5 Minuten, die Taiga zu verlassen”, sprachen die Russen. Da begannen die Schamanen, sie zu hassen. Die Vertreibung aus dem Paradies wirkte sich aber auf Ole Lukkoye nur bedingt aus: Ihre Musik wurde deutlich moderner, ohne allerdings die Wurzeln zu verfassen. Die trance-artigen Rhythmen wurden nun nicht nur auf Percussion, sondern auch von Drummachines gespielt. Die ethnische Hypnose vermischte sich mit dem Urbanen Pulsschlag der Großstadt St. Petersburg. Ole Lukkoye könnte man nun mit etwas Wagemut gar mal in einer Discothek auflegen. Das Album “Doo-Doo-Doo” (1998) bietet längere Tracks, der Rhythmus entwickelt sich nur langsam. Der Schamanei wurden Grenzen gesetzt, die Hypnose blieb jedoch. Zum Rauch der Gräser wurde eben Krim-Sekt serviert. Dennoch: Psychedelische Melodien und mythische Rhythmen sind weiterhin das Markenzeichen der Band. Das 2000 veröffentlichte “Crystal Crow-Bar” behält diesen Stil bei und ist nicht minder faszinierend als etwa das ursprüngliche “Toomze”, bietet aber auch Neues: Mit Tanya Svaha ist eine Sängerin in die Band integriert worden. Sie wechselt sich mit Boris Bardash im Gesang ab. Dennoch handelt es sich hier nicht um richtigen Gesang, vielmehr werden die Stimmen wie ein zusätzliches Instrument eingesetzt. 2002 ging die Band noch einen Schritt weiter: Das Album “Horse-Tiger” bindet noch mehr blubbernde Synthies ein und ersetzt häufig die traditionellen Instrumente, dennoch bleiben sich Ole Lukkoye treu: Auch wenn es E-Gitarren, Synthies und Drummachines sind – es klingt immer noch nach hypnotischer Schamanenmusik mit Ursprung östlich des Urals. Apropos Ursprung: Ole Lukkoye stammen keineswegs irgendwo aus der Steppe. Boris Bardash und Andrey Lavrinenko spielten Ende der 80er in der Artrock-Band Sezon Doshdei, verließen diese jedoch 1989 und nahmen anschließend weiter Musik auf. Diese alten Aufnahmen sind 2003 als Ole Lukkoye-Album “Dream Of The Wind” veröffentlicht worden: Eher Ambient, etwas Progressive und schon leichte Andeutungen der traditionellen Psychedelic. Neben zwei Live-Alben (mit berauschter, trance­artiger Atmosphäre) komplettiert “Dream Of The Wind” so das Erlebnis, was scheinbar aus einer für Westeuropäer völlig unwirklichen Welt stammt.

Bernd Sievers, 2004